Blind für Veränderungen
Die Normalitätsverzerrung und ihre Auswirkungen auf Unternehmen und Individuen"
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Guten Morgen. Starten wir gemeinsam in diesen Dienstag. Denn wie immer gilt auch heute wieder: "Es ist durchaus möglich, sowohl rational zu sein als auch falsch zu liegen." Unser Werkzeug eines Chief Behavioral Officers heute:
Die Normalitätsverzerrung
Lassen Sie uns gemeinsam in die Vergangenheit reisen. In eine Zeit in der man am Samstagabend in eine Videothek fuhr und sich mit DVDs und Snacks versorgte. Doch für Joseph P. Clayton, den einstigen Geschäftsführer von Blockbuster, endete diese Zeit unerwartet früh.
Als er vor der letzten verbleibenden Filiale stand, um das Schloss ein letztes Mal zu schließen, spürte Clayton eine Mischung aus Wehmut und Überraschung. Die Ära der gelben und blauen Blockbuster-Schilder neigte sich dem Ende zu.
"Niemand sah es kommen", gestand Clayton, während er auf die leeren Regale blickte. Blockbuster befand sich plötzlich inmitten einer sich rapide verändernden Normalität. Das rasante Aufkommen von Plattformen, die es den Menschen ermöglichten, Filme bequem von zu Hause aus zu streamen, erwies sich als Wendepunkt, den Clayton und sein Team nicht vorausgesehen hatten.
Wie funktioniert das? Science, baby!
Die Normalitätsverzerrung, die dazu führt, dass Menschen Gefahren ignorieren oder als ungefährlich einstufen, hat tiefe Wurzeln in der Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Unter Stress, insbesondere in unbekannten Situationen, wird die Verarbeitung von unbekannten Mustern verlangsamt. Unser Gehirn neigt dazu, auf System 1 zurückzugreifen, den automatischen und schnellen Modus. Fehlt jedoch ein gespeichertes Rezept, um mit dem Muster umzugehen, wird ein Standardrezept angewendet.
Diese Verzerrung erklärt, warum Menschen selbst bei expliziten Warnungen, wie im Fall von Naturkatastrophen wie Hurrikan Katrina, dazu neigen, Evakuierungsanweisungen zu ignorieren. Die evolutionäre Reaktion auf Stress und Bedrohung spielt ebenfalls eine Rolle. Das Festhalten an bekannten Mustern, selbst wenn sie nicht angemessen sind, könnte evolutionär gesehen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bedeuten. In einigen Fällen entspricht dies dem "Freeze"-Mechanismus, bei dem Tiere sich in gefährlichen Situationen reglos verhalten, in der Hoffnung, nicht entdeckt oder attackiert zu werden.
Warum das wichtig ist?
Die Auswirkungen der Normalitätsverzerrung sind weitreichend und können sich nicht nur auf einzelne Unternehmen, sondern auch auf ganze Industrien und sogar auf persönlicher Ebene manifestieren. Ein Paradebeispiel ist der Niedergang von einst dominierenden Unternehmen wie Nokia. Firmensprecher Kari Tuuti sagte 2007 im Interview mit SPIEGEL ONLINE:
“Das iPhone ist ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt. Aber ich bin mir sicher, dass wir der Marktführer bleiben.”
2013 wurde Nokia von Microsoft übernommen. Ende 2014 war die Marke Nokia dann endgültig Geschichte.
Es muss nicht immer eine Bedrohung durch einen Wettbewerber sein. Die Normalitätsverzerrung sorgt auch dafür, dass Chancen einer neuen Technologie nicht erkannt werden. Beispiele für Insolvenzen finden wir auch in der deutschen Automobilindustrie, die sich lange Zeit auf traditionelle Antriebsformen konzentrierte. Auch wenn sich Unternehmen den Herausforderungen der E-Mobilität heute stellen, das Festhalten an bewährten Mustern bedeutet für die Unternehmen heute Wettbewerbsdruck und eine schwierige finanzielle Situation.
Auf persönlicher Ebene lässt sich die Normalitätsverzerrung bei der Altersvorsorge und Gesundheitsvorsorge beobachten. Obwohl die Versorgungslücke durch die staatliche Rente seit Jahren kommuniziert wird, sorgen viele Menschen nicht ausreichend finanziell vor. Im Bereich der Gesundheit werden Warnhinweise des Körpers wie Schmerzen oder Unwohlsein ignoriert. Die Normalitätsverzerrung kann daher zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen führen.
Und jetzt?
Die Normalitätsverzerrung durchzieht somit alle Ebenen unseres Lebens – von der Unternehmensführung bis zu persönlichen Entscheidungen. Es ist daher wichtig, sich offen den Herausforderungen einer sich ständig verändernden Welt zu stellen. Was kann man neben dem Bewusstsein für die Normalitätsverzerrung konkret tun?
Reduzieren Sie Stress im Unternehmen oder Privatleben. So geben sie dem langsameren und bewussteren Denkmodus des Gehirns eine Chance, Abweichungen von der Normalität zu erkennen und den “Freeze”-Reflex zu unterdrücken.
Machen Sie es wie die Feuerwehr. Durch gezieltes Training ohne Stress können neue Muster erkannt und entsprechende Handlungsrezepte eingeübt werden. Trainieren Sie also Situationen, die ihr Unternehmen in Bedrängnis bringen können, bevor es wirklich so weit kommt. Die Methode “Kill your Company” simuliert beispielsweise eine Bedrohung durch einen Wettbewerber.
Weitere Situationen können Sie durch “Was wäre, wenn …” Fragen ermitteln. Denken Sie ruhig das Undenkbare und stellen Sie dadurch Konventionen ihrer Branche auf den Kopf.
Suchen Sie bewusst nach Indikatoren oder ersten Anzeichen für das Undenkbare.
Je öfter Sie trainieren, desto besser und früher erkennen Sie Abweichungen von der Normalität.
Unterm Strich
Die Normalitätsverzerrung kann schwerwiegende Folgen für Ihr Unternehmen oder Privatleben bedeuten. Mit regelmäßigem Training können Sie jedoch ihren Blick für Veränderungen schärfen. Auch die Vielfalt von Perspektiven und Sichtweisen kann dazu beitragen, die Normalitätsverzerrung zu reduzieren. Lassen Sie zu, dass das Undenkbare ausgesprochen wird, wie im Mittelalter die Hofnarren.
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