Der "Höflichkeitsfehler" – Wenn zu viel Anstand zur Falle wird
Zwischenmenschliche Diplomatie oder der stille Killer guter Ideen?
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Guten Morgen. Starten wir gemeinsam in diesen Dienstag. Denn wie immer gilt auch heute wieder: "Es ist durchaus möglich, sowohl rational zu sein als auch falsch zu liegen." Unser Werkzeug eines Chief Behavioral Officers heute:
Courtsey Bias
Es war ein ganz normaler Arbeitstag in meinem Unternehmen, bis ich in eine Besprechung gerufen wurde, die meine Sichtweise auf Kommunikation und Entscheidungsfindung grundlegend verändern sollte. Wir diskutierten über ein neues Projekt, und jeder schien einverstanden zu sein – bis auf mich. Ich hatte Bedenken, aber anstatt meine Meinung offen zu äußern, nickte ich nur zustimmend. Warum? Weil ich nicht unhöflich sein wollte.
Später, als das Projekt scheiterte, wurde mir klar, dass mein Schweigen einen hohen Preis hatte. Ich hatte dem 'Courtsey Bias', dem Höflichkeitsfehler, nachgegeben. Dieser Fehler tritt auf, wenn Menschen ihre wahren Gedanken oder Meinungen zurückhalten, um nicht unhöflich oder konfrontativ zu erscheinen. In meinem Fall führte es dazu, dass wichtige Bedenken unberücksichtigt blieben.
Ich begann, aufmerksamer in Meetings zu sein und bemerkte, dass ich nicht allein war. Viele meiner Kollegen hielten sich ebenfalls zurück, was zu einer Kultur führte, in der echtes Feedback selten war. Es war, als ob wir alle in einer Blase der Höflichkeit gefangen waren, die es schwierig machte, echte Probleme anzusprechen und zu lösen.
Das war der Moment, in dem ich beschloss, etwas zu ändern. Ich begann, meine Meinung ehrlich, aber respektvoll zu äußern. Anfangs war es unangenehm, doch mit der Zeit bemerkte ich, wie sich die Dynamik im Team veränderte. Ehrliche Diskussionen führten zu besseren Entscheidungen und einem stärkeren Gefühl der Zusammenarbeit.
Diese Erfahrung lehrte mich, dass Höflichkeit zwar wichtig ist, aber nicht auf Kosten der Wahrheit gehen sollte. Der 'Courtesy Bias' ist eine subtile, aber mächtige Kraft, die verhindern kann, dass wertvolle Einsichten geteilt werden. Es ist wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem Offenheit und Ehrlichkeit gefördert werden, um die besten Ergebnisse zu erzielen.
Wie funktioniert das? Science, baby!
Der Courtesy Bias entsteht, weil Menschen von Natur aus soziale Wesen sind. Wir suchen die Zustimmung und das Wohlwollen anderer. Psychologisch gesehen möchten wir Konflikte vermeiden und harmonische Beziehungen aufrechterhalten. Dieser Bias ist tief in unserem Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz verwurzelt. Forschungen haben gezeigt, dass dieser Bias besonders stark in Kulturen ist, die großen Wert auf Harmonie und Gruppenkonsens legen.
Aber es geht nicht nur um Kultur. Auch unser Gehirn spielt eine Rolle. Studien in der Neurowissenschaft zeigen, dass die Gehirnregionen, die für soziale Anerkennung und Belohnung zuständig sind, aktiviert werden, wenn wir Zustimmung von anderen erhalten. Dies erklärt, warum es oft angenehmer ist, zuzustimmen, statt Konfrontation zu riskieren.
Warum das wichtig ist?
Stellen wir uns eine Welt vor, in der der Courtesy Bias nicht erkannt und angegangen wird. Ich erinnere mich an ein Projekt in meiner Firma, das fast gescheitert wäre, weil keiner den Mut hatte, seine wahren Gedanken zu äußern.
Wir waren ein Team aus sechs Personen, das an einer neuen Produktlinie arbeitete. Jeder im Team hatte unterschiedliche Ideen und Bedenken, doch in den Meetings herrschte stets ein unangenehmes Schweigen, wenn der Projektleiter seine Vorschläge präsentierte. Niemand wollte derjenige sein, der gegen den Strom schwimmt. Wir nickten einfach und stimmten zu, obwohl viele von uns Bedenken hatten.
Das Ergebnis? Wir entwickelten ein Produkt, das nicht wirklich innovativ war und nicht den Bedürfnissen unserer Kunden entsprach. Erst nachdem das Projekt fast gescheitert war, kamen die wahren Meinungen ans Licht. Jeder hatte sich aus Angst vor Konflikten oder dem Verlust des Ansehens im Team zurückgehalten.
Diese Erfahrung zeigt deutlich, wie der Courtesy Bias zu ineffizienten Prozessen und schlechten Entscheidungen führen kann. Wenn wir unsere wahren Gedanken und Ideen nicht teilen, verlieren wir die Möglichkeit, von der kollektiven Intelligenz und den unterschiedlichen Perspektiven in einem Team zu profitieren.
Der Courtesy Bias ist nicht nur in der Geschäftswelt relevant. Er beeinflusst auch unser persönliches Leben. Wie oft haben wir unsere eigene Meinung in sozialen Situationen zurückgehalten, nur um Konflikte zu vermeiden? Diese Tendenz kann uns daran hindern, authentische Beziehungen aufzubauen und unser wahres Selbst zu zeigen.
Indem wir uns des Courtesy Bias bewusst werden und aktiv daran arbeiten, ihn zu überwinden, können wir eine Kultur der Offenheit und Ehrlichkeit schaffen. Dies führt nicht nur zu besseren Entscheidungen in Teams und Organisationen, sondern auch zu ehrlicheren und erfüllenderen Beziehungen in unserem persönlichen Leben.
Es ist also von entscheidender Bedeutung, sich mit dem Phänomen des Courtesy Bias auseinanderzusetzen, um sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext authentischere und effektivere Kommunikation zu ermöglichen.
Und jetzt?
Um den heutigen Tag mit dem Wissen um den Courtesy Bias zu meistern, beginnen Sie damit, Ihre eigene Kommunikation zu reflektieren. Fragen Sie sich, ob Sie Ihre Meinung aus Höflichkeit zurückhalten. Ermutigen Sie in Meetings aktiv unterschiedliche Meinungen und schaffen Sie eine Atmosphäre, in der sich alle gehört fühlen. Das Bewusstsein für diesen Bias und die Förderung eines offenen Dialogs kann zu besseren, wohlüberlegten Entscheidungen führen.
Unterm Strich
Kern des Wissens: Der Courtesy Bias beeinflusst, wie wir kommunizieren, um Konflikte zu vermeiden und Akzeptanz zu suchen.
Selbstständige Checkliste zur Überwindung des Courtesy Bias:
Tägliche Selbstreflexion: Widmen Sie jeden Tag einige Minuten der Reflexion über Situationen, in denen Sie Ihre Meinung zurückgehalten haben. Überlegen Sie, warum Sie geschwiegen haben und wie Sie sich hätten äußern können.
Persönliches Feedback-Journal: Führen Sie ein Journal, in dem Sie Ihre Kommunikationsmuster notieren und reflektieren. Bewerten Sie selbst, wie oft Sie Ihre wahre Meinung äußern und wo Verbesserungsbedarf besteht.
Rollenspiel im Kopf: Stellen Sie sich vor, wie Sie in einer bestimmten Situation Ihre Meinung äußern könnten. Üben Sie verschiedene Herangehensweisen im Geiste durch, um sich auf zukünftige Gespräche vorzubereiten.
Kleine Schritte machen: Beginnen Sie damit, Ihre Meinung in weniger wichtigen Situationen zu äußern. Dies kann das Selbstvertrauen stärken, um sich auch in wichtigeren Kontexten zu äußern.
"Ich"-Aussagen nutzen: Üben Sie, Ihre Meinungen als "Ich"-Aussagen zu formulieren, um weniger konfrontativ zu wirken und Ihre Perspektive klar zu machen.
Aktives Zuhören üben: Auch wenn Sie alleine sind, können Sie aktives Zuhören üben. Hören Sie Podcasts oder betrachten Sie Diskussionen und achten Sie darauf, wie Sie die Meinungen anderer intern verarbeiten und wertschätzen.
Vielfalt der Perspektiven suchen: Lesen Sie Meinungen und Perspektiven, die sich von Ihren eigenen unterscheiden. Dies kann helfen, Ihre eigenen Ansichten zu hinterfragen und sich mit einer Vielzahl von Gedanken auseinanderzusetzen.
Konstruktives Feedback geben und reflektieren: Üben Sie, sich selbst konstruktives Feedback zu geben. Nach jedem Gespräch oder Meeting, reflektieren Sie, wie Sie sich geäußert haben und was Sie verbessern könnten.
Entscheidungstagebuch führen: Notieren Sie, wie Sie Entscheidungen treffen und welche Faktoren Sie dabei berücksichtigen. Dies kann Ihnen helfen, Muster in Ihrem Entscheidungsprozess zu erkennen und zu verstehen, wo der Courtesy Bias eine Rolle spielt.
Regelmäßige Fortschrittsüberprüfung: Setzen Sie sich regelmäßig mit Ihrem Fortschritt auseinander und passen Sie Ihre Strategien an, um den Courtesy Bias effektiver zu überwinden.
Chief Behavioral Officer gesucht
Wo werden täglich Managemententscheidungen getroffen, die immer noch vom logisch handelnden Menschen ausgehen? Wo können Sie diese Woche selbst ein Chief Behavioral Officer sein?
Wir sehen uns kommenden Dienstag.
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